Czernowitz Bukowina - Wo Menschen und Bücher lebten

 

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Othmar Andrée

Czernowitz gestern und heute.
Von der Aktualität eines Mythos

Die Reise nach Czernowitz beginnt in der heimischen Bibliothek. Sie lohnt nicht ohne gründliche Konsultation der bemerkenswerten Literatur, die aus dieser doch eher unbedeutenden Landschaft mit dem Namen Bukowina und aus der kleinen Stadt in ihrer Mitte hervorgegangen ist und scheint vergeblich ohne Bemühen um die Geistes- und Kulturgeschichte, die Stadt und Landschaft geprägt und von beiden ihren Ausgang genommen haben. Vor aller realen Physis des urbanen Organismus, lange vor Inaugenscheinnahme der leibhaftigen „Gegend, in der einmal Menschen und Bücher lebten“(1), ist die Lyrik Paul Celans und Rose Ausländers, sind die Werke Itzik Mangers und Elieser Steinbargs angesiedelt, sollten Osip Jurij Fedkowicz und Mihai Eminescu wenigstens nicht ganz unbekannt sein. Unerlässlich erscheint die Auseinandersetzung mit den Lebens- und Überlebenszeugnissen der vor über sechzig Jahren aus dieser Provinz deportierten und umgekommenen Menschen, Dokumente, die in erstaunlicher Fülle vorliegen. Und man sollte sich vor einer Reise vielleicht auch mit „jenen bukowinagebürtigen Intellektuellen beschäftigt haben, die nicht in erster Linie Literatur, wohl aber verschiedenste Weisen von Wissenschaft (re)präsentierten und dabei auf ihre Art schreibend den universellen Ideenvorrat Bukowiner Geistesgeschichte erweitert und bereichert haben. Das sind unter anderen Walter Rode, Wilhelm Reich, Maximilien Rubel und der erst kürzlich 96-jährig in New York verstorbene Erwin Chargaff, Persönlichkeiten, die als Grenzgänger zwischen Gelehrsamkeit, Publizistik und Literatur gesehen werden können.“(2) Auch wäre es sicher nicht von Nachteil, sich in den geschichtlich-historischen Begebenheiten, Entwicklungen und Konstellationen dieser Ecke Europas halbwegs zurechtzufinden.

BildKinderspital Charitas in Czernowitz, Stiftung des Edlen von Mosara
Dr.-Wolan-Gasse, heute: Буковинська


Sonst wäre wirklich alles nur Kulisse. Man sieht die Gebäude und ihre gewiss nicht unansehnlichen Fassaden und Stiegenhäuser, aber begreift nichts von ihrer Genesis, noch weniger erfährt man von den Menschen, die einmal in ihnen gelebt, gedacht und gearbeitet haben. Man stößt auf Kirchen, auf Paläste, ehemalige Synagogen und Bethäuser, man betritt Friedhöfe und Parks und flaniert im Hort der Bourgeoisie, in einem seiner schönsten Exemplare, der Stadt eben, aber genauso gut könnte man ahnungslos und in Erwartung eines mittelalterlichen Stadtkerns die Straßen durchstreifen, ohne seiner jemals gewahr zu werden. Denn es gibt von ihm nicht die Spur. Czernowitz war und ist eine Stadt des Bürgertums par excellence und eine des neunzehnten Jahrhunderts dazu, das hier erst mit dem Zweiten Weltkrieg zum Abschluss kam. Über einen mittelalterlichen Stadtkern, wie ihn Lemberg oder Lublin vorweisen können, verfügt die Stadt nicht. Und zum Bürgerlichen ist zu sagen, dass das Herzogtum Bukowina wohl zeitweilig durch blaues Blut repräsentiert war - die Provinz war einhundertfünfzig Jahre lang Teil einer Monarchie -, aber die Funktion des Provinzialregierenden war die eines Landespräsidenten. Jedenfalls solange, bis die Rumänen kamen. Der letzte aus dieser Reihe war Rudolf Graf von Meran.

Eine Reise nach Czernowitz. Mitunter ist sie beschwerlich genug. Spontane Entschlüsse sollte man lieber noch einmal überdenken. Da sind die Einreisebestimmungen der Ukraine vor.* Voraussetzung ist die Buchung einer Unterkunft, eines Hotels, bei Privatreisen bis vor kurzem noch die persönliche Einladung und ihre Genehmigung, das Uwedomlenje, beantragt bei und ausgestellt von den örtlichen Milizen, inzwischen aber geschleift wegen Anpassung der Verwaltungsgepflogenheiten an die Usancen der Europäischen Union, und natürlich das Visum, das in der Botschaft erstanden und bezahlt und auf das gewartet werden muss – zuhause oder im Gebäude der Botschaft selbst.

Dann sind da die gelegentlich schon skurril zu nennenden öffentlichen Verkehrsmittel des Landes und der hohe Zeitaufwand, der ihre Inanspruchnahme einfordert. Der dürftige technische Standard und das auffallend geringe Reisetempo sind andererseits aber auch wieder das Horsd’rsquo;oeuvre für das eigentlich großartige Erlebnis einer Reise in den europäischen Osten. Bequemlichkeit ist jetzt nicht gefragt. Eine Bahnreise nach Czernowitz ist nicht unter dreißig Stunden zu haben und lässt sich im Westen Europas nicht buchen. Da beginnen schon die Schwierigkeiten. Die deutschen und welche Reisebüros auch immer sind gelegentlich von diesem Tatbestand selber überrascht.

Wer sich nicht fürchtet, lässt sich auf alles ein und fährt mit dem eigenen Fahrzeug. Das dauert von Köln oder von Berlin glatt drei Tage. Hat man es eilig oder sitzt einem das Geld locker, fliegt man in knapp zwei Stunden von Frankfurt am Main nach Lemberg und nimmt in der einstigen galizischen k.u.k.-Metropole, die heute den Namen L’rsquo;viv trägt, für vier bis fünf Stunden das zuhause im Reisebüro gebuchte Taxi nach Czernowitz. Die Fahrer sind ausgesucht freundlich und strahlen alle Zeichen der Zuverlässigkeit aus. In ihrer Obhut schreckt einen nicht einmal das halbe Dutzend Straßensperren, besetzt mit allen Dienstgraden der verblichenen Sowjetarmee, das ganze eine aktualisierte Form mittelalterlicher Wegelagerei. Ehemalige Bürger der Bukowina, die heute in Israel leben, durchweg höhere Jahrgänge, besuchen ihre alte Heimat mit dem Bus von Bukarest kommend und im Tross eines Reiseveranstalters, also aus der alten und neuen Hauptstadt der Bukowina und Rumäniens, wohin sie von Tel Aviv aus das Flugzeug genommen haben.

Das alles ist kein geringer Fortschritt den Verhältnissen gegenüber, wie sie in Osteuropa bis weit in die Achtziger herrschten. Seinerzeit war ja an einer Verlassen der Stadt ohne Genehmigung örtlicher Milizstellen überhaupt nicht zu denken. Und es war üblich, dem Reisenden eine ortskundige und sprachlich kompetente Person aus der dritten Liga der Nomenklatura an die Seite zu stellen, der es aufgetragen war, Kenntnisse über das besuchte Land zu vermitteln, touristisch wertvolle Ziele zu bestimmen und den Touristen vor Abwegen, zu jüdischen Friedhöfen vielleicht, Synagogen gar oder in die unliebsamen Gefilde der neueren und älteren Geschichte zu bewahren, auf die er ohne parteiamtliche Aufsicht leicht hätte geraten können. Anfang der Neunziger galt dies nicht mehr, aber man konnte immerhin noch auf Begleitung durch jene Person bestehen. Dafür war dann für jeden Tag ihrer Anwesenheit ein Betrag hinzublättern, der sich ungefähr in der Höhe der Übernachtungsgebühren für das Interhotel bewegte. So fuhr man auf Straßen und durch Ortschaften mit Begleitschutz, während einem die Geschichte der Bukowina aus der Sicht der Jahrzehnte herrschenden Partei nähergebracht werden konnte.

Heutzutage ist ohne Zweifel am eindrücklichsten die Fahrt nach Czernowitz und in die Bukowina die mit der Bahn. Man gerät gewissermaßen in Kaskaden, deren geometrische Bruchkanten den Landesgrenzen entsprechen und deren Fallhöhe dem zunehmenden Grad der technischen Rückständigkeit unmittelbar proportional ist, nach Osteuropa. Über einige Jahre hielt der Nachtzug, aus Berlin kommend, in Krakow Glowny zwischen verunkrauteten Sandflächen und in der unmittelbaren Nachbarschaft aufgelassener, hölzerner Bahnschuppen, ausgelagertem Schrott und ausrangierten Güterwagen, eine beispiellose Schlamperei und Lässigkeit. Andererseits betrat man mit dem Verlassen des Waggons in den feuchtkalten Morgen hinein eine Unordnung, das unbestellte Feld einer urbanen Wildnis, gegen die sich die atemberaubend schöne Stadt noch halbwegs behaupten konnte. Doch dann entpuppten sich diese originellen Umstände als schlichtes Provisorium – längst war an der raumschiffartig-monströsen Modernisierung und Erweiterung des Hauptbahnhofs gearbeitet worden und nun war sie abgeschlossen -, und aus war’rsquo;s mit dem Überschwang der Gefühle, mit dem altösterreichischen Schlendrian, dem polnischen Charme.

Przemysl, Polens Grenzstation zur Ukraine, war ja nicht anders. Tausende Ukrainer drängten sich nach der Unabhängigkeit und dem nationalen Aufbruch ihres Landes auf dem Bahnhofsgelände, mit gewaltigen Taschen und unförmigem Handelsgut, zusammengerollten Teppichen etwa, bewaffnet.
 


(1) Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa. Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen 1958. Frankfurt am Main 1983
(2) Klaus Werner. Die ‚sbquo;anderen‘lsquo; Czernowitzer Abkömmlinge deutsch-jüdischer Ideengeschichte und Literatur. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, Band 1/2001
(*) Dieser Text ist ein Zeitdokument. Ich habe ihn Ende der Neunzigerjahre verfasst, und er spiegelt im Wesentlichen Eindrücke und Verhältnisse aus der Zeit nach der Unabhängigkeit der Ukraine wider, also aus der Mitte der Neunzigerjahre. So haben sich etwa die Einreisebestimmungen in die Ukraine in der Zwischenzeit deutlich verbessert. "... dass die Visumspflicht fuer die Buerger der EU, der Schweiz und der USA laengst abgeschafft worden ist. Man benoetigt keine Einladung oder Hotelreservierung mehr, um die UA einreisen zu koennen. Und es ist nun wirklich egal, was man fuer eine Adresse in diesen "Immigrationszettel" an der Grenze reinschreibt." (Oxana Matiychuk, Czernowitz, 5. Juli 2007)

 


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