Czernowitz Bukowina - Wo Menschen und Bücher lebten

 

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otla

Itzik Manger
Die Juden und die deutsche Kultur (1961)
איציק מאַנגער
אידן און די דײַטשע קולטור (1961)

Itzik Manger, *1901 in Czernowitz, † 1969 in Gedera, Israel

 


 

פֿונם אָריגינאַל, דער לעצטער אָפּשניט

אַ פּוסטקײט,  אַן אַנימאַלישער פּחד אָטמעט פֿון יעדער שפּאַרונע. אַ
משוגענע מוזע דעקלאַמירט שילערס "קינדערמערדערין" פֿאַר די װינט. אַ
דײַטשע דאָקטאָרין װאָס זעט אױס װי די נאָטאָרישע דאָקטאָרין אָבערהױזער,
טראָגט אַ מפּילע אין פֿאַרטוך. ערשט אָפּגענומען נאָך אַן אָפּעראַציע –
ס'הײסט דײַטשע קולטור.

 


 

 

     Die beiden blonden jungen Mädchen führen ihren elfjährigen Neffen durch das kleine ostgalizische Schtetl. Wie in den Jahren zuvor besucht der Neffe in den Ferien die Großmutter. Diesmal aber sind die Tanten ganz besonders froh gestimmt. Der kleine Neffe ist heuer nach vier Volksschulklassen ins Gymnasium aufgenommen, als Student, wie man hier so sagt. Und jetzt sind die Tanten glücklich wie nie zuvor. Ihre blonden Zöpfe wirbeln im Wind wie Gold, ein Goldblond, das nicht einmal Goethes Klärchen oder Gretchen zustande bringen würde.
    Zu jedem Juden im Schtetl und zu jeder Jüdin soll der Neffe ein paar urdeutsche Worte sagen. Das beherzigt er und grüßt sie auf Deutsch mit „Guten Tag, mein Herr! Schönes Wetter heute!“, oder wie der Gymnasiast einer großen Stadt: „Küss die Hand, gnädige Frau!“
     Die Tanten sind entzückt, und die Juden nicken dazu. Sie haben ihre Freude an dem, wie es scheint, guten Deutsch, ein Deutsch, wie man es in Wien oder Berlin spricht.
     Sogar die Tscharne, die Schwarze, die „Klaftscheche“, wie man sie nennt, die Belfernde, die mit dem Blick eines Raubvogels, die keifen kann wie kein anderer, sogar sie bleibt mit offenem Mund stehen, wenn sie das „Küss die Hand, gnädige Frau!“ vernimmt. Aber statt eines Fluchs, greift sie jetzt in ihrer Schürze nach einem Bonbon und reicht es dem „kleinen Studenten“.
     „Immer noch besser ein Bonbon als einer von ihren Flüchen“, so die eine Tante zur andern. „Mit seinem Deutsch hat er die Tscharne ganz schön verblüfft!“

 

Itzik Manger unter Czernowitzer SchriftstellerkollegInnen 1928,
Rose Ausländer, Helios Hecht, Itzik Manger, Arnold Schwarz (?)

Bildquelle: Czernowitz Art Gallery
https://ehpestesto.wordpress.com/page/11/

 

     Die Juden der österreichisch-ungarischen Monarchie klammerten sich in ihrem Patriotismus an den Backenbart Kaiser Franz Josefs1. Und sie haben hervorragend Deutsch beherrscht und gelesen. Inmitten ausschließlich slawischer Territorien waren sie der germanisierende Faktor. Obwohl sie, bewahre, nichts weiter waren als Juden, hat sie der übermächtige deutsche Kulturimperialismus weit über die Grenzen Deutschlands und über die österreichische Monarchie hinaus für seine Zwecke eingespannt.
     Zur gleichen Zeit, als die beiden blonden jüdischen Mädchen mit Stolz auf das Deutsch ihres Neffen durch das kleine ostgalizische Städtchen spazierten, hat in Wien ein junger Bursche aus Österreich die Judenfrage „studiert“. Ziellos durch die Gassen Wiens schlendernd, stieß er mit einem Juden zusammen, einem Juden im Kaftan, mit Bart und Pejes2. „Ist das überhaupt ein Deutscher?“, fragte sich der Bursche mit dem Namen Adolf Schicklgruber. Er beschloss, sich eingehender mit dieser Frage zu beschäftigen. Er wollte ihr auf den Grund gehen und begann mit der Lektüre, mit dem „Studium“ antisemitischer Literatur. Mit der hintersinnigen Frage, „Ist das überhaupt ein Deutscher?“, bahnte sich die größte Tragödie des jüdischen Volkes an, die Vernichtung des europäischen Judentums.

     Geben Sie mir die Gelegenheit, mich mit dem deutsch-österreichischen „Hamlet“ zu beschäftigen, mit der Judenfrage in der deutschen antisemitischen Literatur. Diese Literatur hatte mächtigen Einfluss. Sie war absurd und närrisch genug, paradox und verbrecherisch, und sie richtete sich an den deutschen „Intellekt“, an das Ober- wie Unterbewusstsein der Deutschen.
     Wien war gewiss nicht das, was die jüdischen Sozialisten sich selbst und dem Rest der Welt weismachen wollten, die Stadt des lockeren Lebens wie der großen sozialistischen Ideen. Wien war katholisch-reaktionär, extrem antisemitisch und gewalttätig. Wenn „Studierende“ der Judenfrage wie Adolf Hitler auf die einschlägige „Literatur“ zur Judenfrage stießen, kam es ihnen in ihren kleinen Köpfen wie eine Erleuchtung. Und es war für Hitler nur nebensächlich, dass ihm bewusst wurde, der Jude im Kaftan sei nicht nur „kein Deutscher“, sondern ziemlich genau das Gegenteil von dem, was ein Deutscher ist und sein sollte: ein Kulturzerstörer, eine Mikrobe im deutschen Organismus, deren man sich so schnell wie möglich zu entledigen hatte.
     Die Juden der österreichischen Monarchie, nicht anders die in Deutschland und Osteuropa erlagen einer gefährlichen Illusion, das war die deutsche Kultur, das „Volk der Dichter und Denker“, und das war Europa. Europa aber war Deutschland.
     In Wahrheit waren sich die Juden darüber im Klaren, dass der „Jecke3 ein Narr“ war, und dass ein Narr nichts als Kummer bereitet. Und der zur Gefahr wird, wenn er sich zum Herren aufspielt. Von dem sich in diesem Sinne fortsetzenden Reim4 wollten die Juden nichts wissen, bis es niemanden mehr gab, der damit hätte etwas anfangen können. Der Kommandant von Auschwitz schilderte, was aus den Millionen Illusionären wurde, als sie als Narren dem Herren Auge in Auge gegenüberstanden.
     Etwas wie ein seltsamer Scharlatan der Geschichte hatte ein altes kluges Volk geblendet, und sein Blendwerk nannte sich deutsche Kultur. Das Volk sah nicht das brutale, stumpfsinnige, teutonische Gesicht hinter der Kulturmaske, und als man es erkannte, war es zu spät.
     Ist es nicht tragisch-grotesk, dass der jüdische Chemiker Fritz Haber5 dem deutschen Golem6 Giftgas in die Hand drückte? Die Deutschen haben diese jüdische Erfindung an der Westfront eingesetzt, im Ersten Weltkrieg. Im Zweiten Weltkrieg haben sie damit das Volk von Fritz Haber vergiftet7.

      Ich möchte jetzt die Rede auf die Juden und die deutsche Kultur bringen. Wir sprachen ja gerade noch von diesem österreichischen Burschen, der sich in einem Wiener Nachtasyl mit der Judenfrage beschäftigte. Das war zu einer Zeit, als Franz Josefs Backenbart idyllisch über der östereichisch-ungarischen Monarchie wehte. Die Juden blickten mit Liebe und Vertrauen auf den kaiserlichen Backenbart. Sie haben sogar untereinander den Namen des Kaisers mit „Frojm8 Jossl“ verjüdelt. Das klang heimisch-familiär, als spräche man mit dem eigenen Großvater.
     In dieser Zeit haben zwei Juden die deutsche Sprache auf die Karte der Weltliteratur gesetzt, der Lyriker und Dramatiker Hugo von Hofmannsthal9 und der Prosakünstler Franz Kafka10. Hugo von Hofmannsthal, zur Hälfte Jude11 ist ohne jeden Zweifel der größte Lyriker der modernen deutschen Literatur. Seine Librettos zur Musik von Richard Strauß sind aus der Sicht der Poesie höher einzustufen als die Musik des Komponisten. Hofmannsthals Poesie ist schmerzlich als wäre sie aus dem Buch Kohélet12, sie ist, als sänge ein sterbender Schwan. Hofmannsthal war der Poet des Weltuntergangs. Hat der Jude in ihm gespürt, was doch niemand ahnte, obwohl es unmittelbar bevorstand?

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
und fallen nachts wie tote Vögel nieder
und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind, und immer wieder
vernehmen wir und reden viele Worte
und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder13.

     Solcherart Gedichte sollte man im Original lesen, um die müde Schönheit der Verse nachempfinden zu können, um die jüdisch-weisen, mit den Texten des Kohelet vertrauten Augen zu sehen, Augen, die auf den Untergang einer Welt blicken, auf das Verwelken einer Zivilisation.
     Kein zweiter vermochte am Rande des Abgrunds und in deutscher Sprache so dichten wie der Jude Hofmannsthal. Auch Rilke nicht, der in seinem „Stundenbuch14“ brav dahinplaudert, später, orgiastisch-zeremoniell, in seinen „Sonetten an Orpheus15“. Hofmannsthal starb 1929, als Hitler seine Auseinandersetzung mit dem Judentum abgeschlossen hatte und längst glaubte, mit den Gaskammern eine Antwort auf seine obskuren Fragen gefunden zu haben, einstweilen nur theoretisch.
     Der andere Jude, der die deutschsprachige Prosa ins Zentrum der modernen Weltliteratur befördert hat, war Franz Kafka. Bis Kafka lag die deutschsprachige Prosa ein wenig abseits der Hauptströmungen der europäischen Literatur. Sie hatte praktisch keinen Einfluss auf die Qualität der modernen Weltliteratur, so wenig wie sie dazu einen nennenswerten Beitrag leisten konnte. Ihr zentralen Gestalten erreichten bestenfalls lokale Bedeutung. Die deutsche Heimatliteratur war schon immer provinziell und patriotisch-flach wie ein Nudelbrett, eher beschränkt als aufgeschlossen, entlarvend oberflächlig und konventionell. Ihr Bildungsroman war und blieb philisterhaft-didaktisch und wenig interessant. Der konservative deutsche Geist hat sich nicht ein einziges Mal provokativ-experimentell hervorgewagt. Darum war die deutschsprachige Prosa wie die ältliche Tante Frieda in ihrer Krinoline, ordentlich frisiert, steif und höflich.
     Und dann plötzlich ein Prosa-Schriftsteller mit einer Prosa, die vibriert, die erfüllt ist von verhaltenen Ängsten, von Furcht und Albträumen. Wo war er bisher, der Angstschweiß der menschlichen Seele –, wo waren die Labyrinthe, die sich verknäulen, sich verstricken und dich niemals entlassen? Prozesse, die kein Ende finden und Paläste, die dich gefangen halten? Hundert Türen, und nicht eine führt ins Freie. Du bist alleine mit den Schreckgestalten, die sich in deine Phantasie eingenistet haben. Niemand kann dich dort befreien, nur du selbst kannst es, aus dir heraus. Wo ist er Schlüssel? Du hast ihn besessen, und jetzt ist er nicht mehr aufzufinden. Der Albtraum wird niemals enden. Er ist dein Schicksal.
     Kafkas Angstvisionen ließen schaudern, stießen auf heftige Reaktionen. Zum ersten Mal sprach die deutsche Prosa mit einer Stimme, die verstörte. Niemand ahnte, dass Kafkas Angstvisionen eine finstere und wüste Prophezeiung waren. Übersetze Kafkas „Schloss“ in die deutsche Wirklichkeit und du hast Konzentrationslager, Gaskammern und deutsche Augen, die durch Beobachtungsluken blicken. Die Augen sehen dich an, sie erkennen dich, sie weiten sich, und du, du atmest Gas ein, du ringst um Luft, du röchelst mit letzter Kraft, und ehe du gänzlich verlöschst, blickst du in diese deutschen Augen. Du möchtest schreien: „Weg mit den deutschen Augen!“ Nur, es geht nicht. Es ist zu spät. Der „Prozess“ ist für dich an sein Ende gekommen. Willst du wissen, welchen Namen diese Augen tragen? Zu spät, alles ist vergessen.
     Rudolf Franz Ferdinand Höß16, Kommandant von Auschwitz. Hofmannsthals Ballade17 und Kafkas Prosa waren der Epilog. Ein instinktiv jüdisches Zittern vor dem Schicksal. Beide lebten nahe18 der Brutstätte alles Bösen, nahe dem katholisch-klerikal-reaktionären Wien, und Wien, das war Österreich, das wahre Deutsch-Österreich.
     Tatsächlich haben die Nazis später den Katholizismus bekämpft, aber den Hass auf die Juden, den sie sich schon in ihren katholischen Elternhäusern, in den katholischen Schulen und Kirchen im Kindesalter einverleibt haben, war fundamental. Unbewusst nistete das Verbrechen im Katholizismus. Allein die Struktur der Nazi-Partei lehnte sich an die des Jesuitenordens an.
     Gegründet im katholischen Österreich19, wurde die Nazi-Partei im ebenso katholischen Bayern zu einer Partei der Massen, und als das katholische Rheinland das industrielle Potenzial einbrachte, war der Jammer groß. Jetzt durften sich die Massengräber auch im katholischen Polen öffnen.
     Dies nur als Anmerkung zur Entstehung des Nazismus. Derweil befasst sich noch immer der „Student“ Adolf Schicklgruber in seinem Wiener Nachtasyl mit der Judenfrage. Er sucht mithilfe antisemtischer Literatur noch immer eine Erklärung für die seltsame Begegnung auf der Wiener Gasse, die Begegnung mit dem Juden im Kaftan, mit dem ungewöhnlichen Bart und den Pejes, der in der verrufenen Landeshauptstadt Franz Josefs vielleicht gerade zum Nachmittagsgebet eilte.

     *

     Derweil haben die Juden Osteuropas fleißig Kant und Schopenhauer, Hegel und Nietzsche studiert. Beinahe jährlich veröffentlichte ein Jude einen Essay, einen Artikel oder eine ganze Monografie, die sich mit der Bedeutung Goethes befasste. Noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg stieß ich auf drei solcher dickleibigen Bände, verfasst von den Juden Friedrich Gundolf20, Eduard Engel21 und Emil Ludwig22. Der Goethe-Kult nahm seinen Anfang im Salon23 der Jüdin Rahel von Varnhagen24 und bestand fort bis zum Vorabend der Gaskammern.
     Saß denn nicht ein jüdischer Doktor der Medizin in Kolomea25 nächtelang und in Schweiß gebadet an einer Übersetzung Goethes „Faust“ ins Jiddische26? Woran dachte er, der Doktor aus Kolomea, als er sah, was es mit der ausschweifenden „Walpurgisnacht“ in Wahrheit auf sich hatte? Darüber nachzudenken, hatte er keine Zeit mehr. Er wurde einer von sechs Millionen.
     Die eifrigsten Studenten Kants waren litauische Jeschiwe-Bocherim, Talmudschüler27. Verlottert und zerlumpt schleppten sie sich zu Fuß nach Königsberg, um sich den „Kategorischen Imperativ“28 einzuverleiben. Konnten sie ahnen, dass die deutsche Interpretation des Kategorischen Imperativs der Massenmord an den Juden war?
     An wen wandte sich Nietzsche in seinen von Ekel und Zweifeln beherrschten Momenten, an wen schrieb er seine mit „Der Gekreuzigte29“ unterzeichneten letzten, wirren Worte? – an den Juden Georg Brandes30.
     Hätte Brandes voraussehen müssen, dass Nietzsches abgegriffenen Phrasen wie Mottos über den Schreibstuben der Himmlers hängen, dass Hitler in Nietzsche „seinen eigenen Philosophen“ erblicken würde, den Philosophen des Übermenschen und der Überrasse?
     Unerheblich, dass Nietzsche Juden und Polen für die einzig kultivierten Völker hielt (Er war stolz auf seine polnische Herkunft31.) und mit Verachtung auf die Deutschen blickte. Ihr sucht beim germanischen Flegel nach der Logik. Als man jüdische Kinder in die Gaskammern schickte, lebend in Massengräber warf, „aufhängte, dass sie aussahen wie Bilder an der Wand“, wie ein deutscher Zeuge in einem der Verbrecherprozesse schilderte, rühmte Himmler zur gleichen Zeit ein Pamphlet, das Juden des Ritualmordes an christlichen Kindern beschuldigte und ließ um die einhunderttausend Exemplare des Pamphlets an seine SS-Mörder verteilen.
     Aber kehren wir noch einmal in jene Zeit zurück, als die Juden begeistert vom „Volk der Dichter und Denker“ sprachen, regelrecht geblendet vom deutschen Kulturschwindel. Eine Illusion, der sie tragisch und in einer Weise aufsaßen, dass sie erst in letzter Minute zur Besinnung kamen, als sie statt Goethes Universalismus und Schillers Idealismus in das steinerne Gesicht des Kommandanten von Auschwitz blickten.
     An dieser Stelle sei angemerkt, dass Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, einer katholischen Familie entstammte. Sein Vater wollte ihn Priester werden lassen. Das Schicksal aber entschied, dass aus ihm anstatt eines Priesters ein Engel werden sollte, ein Todesengel für Millionen Juden.

     Von den Völkern Europas hatte kein anderes bei den Juden so viel Kredit wie das deutsche. Die Juden haben schöpferisch mitgewirkt an der Schaffung der deutschen Kultur. Das deutsche Theater wurde mit den Juden Otto Brahm32 und Max Reinhardt33 weltberühmt, gar nicht zu sprechen vom jüdischen Beitrag zur deutschen Wissenschaft, ein einzigartiger Beitrag, der sich mit den Namen Freud, Einstein, Haber und anderen verbindet. Sogar von der Syphilis hat ein jüdischer Professor, Paul Ehrlich34, die Deutschen geheilt.
     Als sich 1948 Julian Tuwim35 bei mir über das geringe Niveau der polnischen Literatur beklagte und mit leiser Trauer bemerkte, es fehlten wohl die klugen Leser aus der Vorkriegszeit, musste er mir keinen Finger in den Mund legen, wer damit gemeint sei, waren doch die treuesten und gebildetsten Leser jene Juden, die polnisch lasen.
     Das gilt für Deutschland in noch höherem Maße. Nur bei Juden konnte es dieses Bild geben: Die Rébezen36, die Frau eines bekannten chassidischen Rebben, traf ich einmal zu Jom Kippur37 mit einem großen Machsor38, einem Gebetbuch, in der Hand. Aber in das Machsor eingeschlagen war ein Band mit Gedichten von Rainer Maria Rilke. Zum Schein war die Rébezen ins Gebet vertieft, in Wahrheit aber erbaute sie sich am „Buch der Bilder39“ dieses deutschen Poeten.
     Von den baltischen Ländern bis weit hinunter in den Balkan glaubte die jüdische Intelligenz an das poetische wie theoretische deutsche Wort, weil das ihren Vorstellungen von Europa entgegen kam.
     Denkt nicht, dass ich Märchen erzähle! Hört, was dazu ein deutscher Schriftsteller zu sagen hat: Theodor Fontane war ein preußischer Junker40. Er schrieb Gedichte und Romane, das meiste zur preußischen Geschichte. Erst im Alter schrieb er zwei moderne realistische Romane.
     Er ist gerade fünfundsiebzig. Wer, denkt Ihr, feiert mit ihm seinen fünfundsiebzigsten? Die preußischen Aristokraten? Die Goebbels und Görings, die Schicklgrubers und Himmlers jener Zeit? Fontane war so überrascht, dass er just ein Gedicht mit dem Titel „Prähistorischer Adel“ verfasste.
     In diesem Gedicht führt er an, worüber er geschrieben hat. Er rühmt darin die preußischen Generäle, die preußische Geschichte, den „Alten Fritz“ (Friedrich den Großen), die großen historischen Schlachten, die Preußen geschlagen hat. Er nennt und besingt unzählige preußischen Namen, die zu Helden seiner Dichtung wie seiner Romane wurden.
     Jetzt, fragt er, bin ich fünfundsiebzig, und wer ist zu meiner Feier gekommen? Die preußischen Junker? Keinen einzigen Namen finde ich unter den Gratulanten. Die Namen derer, die gekommen sind, enden mit „berg“ und mit „heim“ (deutsch-jüdische Familiennamen). Sie „kommen in Massen“. Meyers kommen in Bataillonen, auch die Pollacks, und die noch weiter östlicher wohnen; „Abram, Isack, Israel, alle sind sie zur Stell’“ und „alle haben sie mich gelesen, für jeden bin ich was gewesen. Alle kannten mich lange schon, und das ist die Hauptsache… Kommen Sie, Cohn!““

Aber die zum Jubeltag kamen,
das waren doch sehr, sehr andre Namen,
auch „sans peur et reproche“, ohne Furcht und Tadel,
aber fast schon von prähistorischem Adel:
Die auf „berg“ und auf „heim“ sind gar nicht zu fassen,
sie stürmen ein in ganzen Massen,
Meyers kommen in Bataillonen,
auch Pollacks und die noch östlicher wohnen;
Abram, Isack, Israel,
alle Patriarchen sind zur Stell,
stellen mich freundlich an ihre Spitze,
was sollen mir da noch die Itzenplitze!
Jedem bin ich was gewesen,
alle haben sie mich gelesen,
alle kannten mich lange schon,
und das ist die Hauptsache... „Kommen Sie, Cohn!“

     Der preußische Junker Fontane weiß, dass die ihn zu feiern gekommen sind, einer geistigen Aristokratie angehören; dass die preußischen Helden und Junker, über die er schrieb, irgendwo in den preußischen Sümpfen schlafen und sie dort nur Kaiser Wilhelms41 Trompetenbläser oder Hitlers Gebrüll wecken kann.

     Die alten Griechen wussten um den verhängnisvollen Gesang der Sirenen; Odysseus stopfte sich mit Wachs die Ohren zu, um nicht ihrem Gesang zu erliegen. Aber die Juden waren arglos, als die deutsche Sirene, die „Loreley“, ihr Lied erklingen ließ. Erst heute, jetzt, nach der Katastrophe, sehen wir das wahre Gesicht der deutsche Kultur-Sirene. Es ist ein (Selbst-)porträt von Salvador Dalí par excellence: das Gesicht von Ilse Koch42, der Schnurrbart Adolf Hitlers, der Bart Genosse Ulbrichts, die Brüste Irma Greses43 und das Hinterteil Kanzler Adenauers.
     Die deutschen Krematorien haben die „deutsche Kultur“ zertrümmert. Millionen Polen, Ukrainer, Litauer haben sich ein deutsches Wort eingeprägt, „Jude“, das einzige deutsche Wort, das über einem geschändeten Kontinent hallt und auf tragische Weise, für immer, erledigt ist.
     Aus den Bergen von Asche eines unschuldig ermorderten Volkes kann kein irdisches Glück erwachsen. Die einzig wirklichen Europäer waren letztlich die Juden, ich meine geistig und menschlich. Sie glaubten unbeirrt an die europäische Zivilisation und den europäischen Geist, wie das nur Juden können. Wovon wir bis heute geträumt haben, die Annäherung Deutschlands und Frankreichs, geschieht erst jetzt und über hundert Jahre zu spät, ein klein bisschen zu spät. Sechs Millionen jüdische Seelen zu spät.
     Die Asche ist für Europa ein Fluch, der sich nicht bannen lässt. Napoleons Anstrengungen, Europa zu einen, waren gewaltig, aber sie misslangen. Als was sich Deutschlands Hegemoniestreben über Europa entpuppte, davon erzählen die KZs und die Krematorien. Jetzt lauert über dem Kontinent das „dritte Kulturvolk“ im europäischen Raum, die Ukrainer. Sie bereicherten die europäische „Zivilisation“ um eine Sache, das war das Progrom. Die Massaker Chochol Nikitas44 wehklagen über einem gebrandmarkten Kontinent. Sämtliche Furien wachen über seine Schritte. Die Deutschen schlafen unruhig auf ihren Matratzen, ausgestopft mit jüdischem Frauenhaar. Weder plagt sie das Gewissen, noch das Urteil der Geschichte. Sämtliche Kulturgötter sind entthront.
     Eine Leere, ein animalischer Schrecken atmet aus jeder Ritze. Eine durchgedrehte Muse deklamiert Schillers „Kindsmörderin45“ in den Wind. Eine deutsche Ärztin, die aussieht wie die berüchtigte Ärztin Oberheuser46 hält in der Schürze eine Totgeburt, mit Kaiserschnitt entbunden. Sie nennt sich deutsche Kultur.

 

 



1 Franz Joseph I., 1830-1916, von 1848 bis 1916 Kaiser von Österreich. Mit einer Regierungszeit von nahezu 68 Jahren übertraf er jeden anderen Regenten seiner Dynastie. Zugleich war er König von Böhmen und Apostolischer König von Ungarn.

2 Schläfenlocken

3 Der Jecke, die Jeckete, Plural: die Jeckes, hebr. יעקע, -ס, umgangssprachliche Bezeichnung für deutschsprachige, in Westeuropa assimilierte Juden, in Abgrenzung zum Schimpfwort „Polacken“.

4 Reim, im jiddischen Original alliterierend: Narr, Kummer, Herr, Gefahr zu: נאַר, צער, האַר, געפֿאַר (nar, zar, har, gefár)

5 Fritz Haber, 1868-1934, 1919 Nobelpreis für Chemie

6 (Der) Golem, hebr. גולם, das hebräische Wort für „formlose Masse; ungeschlachter Mensch“, ab dem frühen Mittelalter in Mitteleuropa die Bezeichnung für eine Figur der jüdischen Literatur und Mystik. Dabei handelt es sich um ein mittels Buchstabenmystik aus Lehm gebildetes stummes menschenähnliches Wesen, das oft gewaltige Größe und Kraft besitzt.

7 Fritz Habers Versuche mit Phosgen und Chlorgas kurz nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs machten ihn zum „Vater des Gaskrieges“.

8 Kurzform von Ephraim, hebr. אפרים

9 Hugo von Hofmannsthal, 1874-1929, Schriftsteller, Dramatiker, Lyriker, Librettist sowie Mitbegründer der Salzburger Festspiele; gilt als einer der wichtigsten Repräsentanten des deutschsprachigen Fin de Siècle und der Wiener Moderne; im Sinne der NS-Ideologie kann man Hugo von Hofmannsthal nicht als Jude bezeichnen

10 Franz Kafka, 1883-1924

11 s. Anm. 8

12 Das Buch Kohélet (hebr. קהלת), eine Schrift der Bibel. Im Tanach wird der Text unter den Ketuwim (Schriften) geführt, im Alten Testament unter den Büchern der Weisheit. Es handelt sich um eine Sammlung von Weisheitssprüchen, praktischen Lebensratschlägen und Warnungen vor falscher Lebensweise.

13 Hugo von Hofmannsthal, Ballade des äußeren Lebens, 1895, Verse 1-9

14 Rainer Maria Rilke, Das Stunden-Buch; Titel eines Gedichtzyklus in drei Teilen, entstanden zwischen 1899 und 1903; wichtigster Teil seines Frühwerks

15 Rainer Maria Rilke, Die Sonette an Orpheus; Titel eines Gedichtzyklus von 55 Sonetten, entstanden 1922

16 Rudolf Franz Ferdinand Höß, 1900-1947, von Mai 1940 bis November 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, Nationalsozialist, SS-Obersturmbannführer; 1947 als Kriegsverbrecher am Ort des ehemaligen Stammlagers hingerichtet

17 s. Anm. 13

18 Kafkas Lebensmittelpunkt war Prag, bis 1918 zur Habsburgermonarchie gehörend

19 Manger verweist hier auf die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP), eine radikale, völkische, antikapitalistische, antikommunistische und antisemitische Partei in Deutschösterreich bzw. der Ersten Republik, entstanden im Mai 1918, noch vor der Gründung der NSDAP vom Februar 1920 im Münchner Hofbräuhaus

20 Friedrich Gundolf, 1880–1931, Dichter und Literaturwissenschaftler, Goethe, 1916

21 Eduard Engel, 1851-1938, Sprach- und Literaturwissenschaftler, Goethe. Der Mann und das Werk, 1909

22 Emil Ludwig, 1881-1948, Schriftsteller, Biograf, Goethe, in zwei Teilen, 1920, und Vom unbekannten Goethe, 1922

23 Salon der Rahel Varnhagen; in zwei Etappen, von 1790 bis1806 und von 1820 bis 1833, in Berlin geführt

24 Rahel Varnhagen von Ense, 1771-1833, Schriftstellerin und Salonnière

25 Koloméa, Коломия, קאָלאָמעאַ, ca. 60.000 Einwohner, Westukraine

26 Leon (Jeschaje Arje) Kupermann, 1883-1949; אַ טראַגעדיע אין צוויי טייל, פֿאַוסט, Philadelphia 1920; Kupermanns Aufenthaltsort Kolomea sowie der Doktorgrad der Medizin sind nicht zu ermitteln.

27 Talmudschüler, ישיבֿה-בחורים, Jeschiwe-Bocherim, Schüler, die eine Jeschiwa besuchen

28 Grundlegendes Prinzip der Ethik im Werk Immanuel Kants, aus Kritik der praktischen Vernunft, Kants zweites Hauptwerk, Riga 1788

29 Nietzsches Brief (aus den sogenannten Wahnsinnszetteln) an Georg Brandes vom 4. Januar 1889

30 Georg Morris Cohen Brandes, 1842-1927, dänischer Literaturkritiker, Philosoph, Schriftsteller

31 Die polnischen Herkunft Nietzsches väterlicher Vorfahren, gelegentlich angeführt, ist eher unsicher.

32 Otto Brahm, 1856-1912, Pseudonym: Otto Anders, deutsch-jüdischer Kritiker, Theaterleiter und Regisseur

33 Max Reinhardt, 1873-1943, österreichischer Theater- und Filmregisseur, Intendant, Theaterproduzent

34 Paul Ehrlich, 1854-1915, Arzt und Forscher; entwickelte eine medikamentöse Behandlung der Syphilis

35 Julian Tuwim, 1894-1953, polnischer Lyriker

36 Rébezen, רביצין, Frau eines chassidischen Rabbiners, eines Rebben, die Frau eines Rebben

37 Jom Kippúr, jidd. Jom-Kípper, יום כּפּור, deutsch zumeist Versöhnungstag, der höchste jüdische Feiertag. Er wird im Herbst als strenger Ruhetag und Fasttag begangen. Zusammen mit dem zehn Tage zuvor stattfindenden zweitägigen Neujahrsfest Rosch Haschana bildet er die Hohen Feiertage des Judentums und den Höhepunkt und Abschluss der zehn Tage der Reue und Umkehr. Jom Kippur wird von einer Mehrheit der Juden, auch nichtreligiösen, in mehr oder weniger strikter Form eingehalten.

38 Machsor, jidd. der, das Máchser, מחזור, Gebetbuch mit ausgesuchten Gebeten und Stellen aus dem Tanach, die zu Feiertagen vorzulesen sind (im Unterschied zu den alltäglichen Gebeten im Siddur).

39 Rainer Maria Rilke, Das Buch der Bilder, Titel einer Sammlung von Gedichten, erschienen 1902 und 1906

40 Heinrich Theodor Fontane, 1819-1898, gilt als literarischer Spiegel Preußens und als bedeutendster Vertreter des Realismus, Sohn eines Apothekers, hugenottischer, nicht jedoch aristokratischer Herkunft

41 zu Fontanes 75. Geburtstag, 1894, war es Kaiser Wilhelm II.

42 Ilse Koch, 1906-1967, Ehefrau des Lagerkommandanten des KZ Buchenwald, Karl Otto Koch; „Hexe von Buchenwald“

43 Irma Grese, 1923-1945, KZ-Aufseherin im KZ Ravensbrück, Auschwitz-Birkenau sowie Bergen-Belsen

44 Chochol, Хохóл, abwertend, beleidigend, Spottname für die „Kleinrussen“, für die Ukrainer; Nikita, vielleicht eine Anspielung auf Nikita Chruschtschow, Ukrainer, von 1953 bis 1964 Parteichef der KPdSU und von 1958 bis 1964 auch Regierungschef der UdSSR

45 Friedrich Schiller, Die Kindsmörderin, 1782

46 Herta Oberheuser, 1911-1978, Ärztin im KZ Ravensbrück, verantwortlich für Menschenversuche mit Sulfonamiden

 


פֿונם אָריגינאַל, דער לעצטער אָפּשניט
 

אַ פּוסטקײט,  אַן אַנימאַלישער פּחד אָטמעט פֿון יעדער שפּאַרונע. אַ
משוגענע מוזע דעקלאַמירט שילערס "קינדערמערדערין" פֿאַר די װינט. אַ
דײַטשע דאָקטאָרין װאָס זעט אױס װי די נאָטאָרישע דאָקטאָרין אָבערהױזער,
טראָגט אַ מפּילע אין פֿאַרטוך. ערשט אָפּגענומען נאָך אַן אָפּעראַציע –
ס'הײסט דײַטשע קולטור.

 


 

Quelle: Itzik Manger (1901-1969).

fun: noente geschtaltn un andere schriftn
נאָענטע געשטאַלטן און אַנדערע שריפֿטן
New York 1961, Seiten 465-474

Link zum jiddischen Original: Yiddish Bookcenter
Übersetzung aus dem Jiddischen: O.A., Oktober 2016


 

Gelber Balken