Czernowitz Bukowina - Wo Menschen und Bücher lebten

 

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So wichtig wie die dokumentarische Glaubwürdigkeit und letztlich über ihr stehend ist aber, dass sich Koepp mit seinem Werk liebevoll, fürsorglich, detailgenau auf seinen Gegenstand eingelassen hat, ihn einfühlend würdigt: die Menschen, von denen er erzählt und die vor allem in ihm erzählen. In einzigartiger Weise legt der Film von diesem Können Zeugnis ab. Koepp leistet, was den Atem des ganz großen Films kennzeichnet: Er findet mit und in sei-nem Werk gleichsam äonisch Zeit für das, was er auf den Begriff bringen will: die geläuterte, schon weise, fraglos kontemplativ zu nennende Rückschau der Menschen auf ihr Leben in außergewöhnlicher und oft nur grauenvoll zu charakterisierender Zeit, ihr Kampf gegen den gesellschaftlichen Abstieg und ihre Armut, ihre Vereinsamung.

Überraschend, wenn nicht völlig inakzeptabel könnte man die Reaktion des Publikums bezeichnen, das sich in großer Zahl zu den Berliner Filmvorführungen drängte. Während der Vorstellung nahm es immer wieder engagiert Anteil in Form freundlicher Erheiterungen. Nicht selten wurde ausgiebig gelacht, aber auch Tränen gab es. Bei der Premiere in der Berliner Akademie der Künste war das noch stärker spürbar als auf der Berlinale im Februar des Jahres. Rosa Roth-Zuckermann hat sich darüber in einem Telefonat am Premierenabend mit dem Rezensenten nicht wenig fassungslos gezeigt, und Herr Zwilling äußerte sich in einer Podiumsdiskussion im Anschluss an die Vorstellung in der Berliner Akademie betroffen. Er habe für die Heiterkeit wenig Verständnis, sagte er. "Ich bin schockiert!"

Am Ende aber ist das Publikum in Schutz zu nehmen; weil es - das sei jetzt mal unterstellt - gebildete, sensible junge Menschen waren, die gelacht haben, und die das auch nicht lauthals taten, nicht vulgär, nicht auf irgendwessen Kosten, vielmehr amüsiert, im positiven Sinne den von den Protagonisten des Films eingenommen, berührt. Man hat sich, der Vergleich sei an dieser Stelle ernsthaft bemüht, erheitert im Sinne der Sprachwirkung Kafkascher Literatur. Nicht ausgeschlossen, dass vielleicht gerade dort, in solcher Art Literatur, will sagen, Kunst das Terrain und die Erklärung für die überraschende Reaktion des Publikums zu suchen wäre.
Der "totenaugenhafte Ernst" seiner, Kafkas Sprache nämlich tut nichts anderes, als dass er uns das Leben selber in seiner ganzen tiefen Wahrhaftigkeit, als unser menschliches Grunderlebnis, als nicht weiter hinterfragbaren Schicksalsrahmen wie einen Spiegel vorhält. Und was er dabei erzeugt, von Zeit zu Zeit als Saldo dieser Kunst herausspringen lässt, kann all das sein, was wir mit Heiterkeit bezeichnen, mit Scherz, Humor, Ironie. Wie sich unser Sein auch immer für uns darstellt, wir gewinnen durch die Kunst, also die Literatur und meinetwegen den Film, nicht durch jeden Film, bewahre, einen gebrochenen, gespiegelten Bezug zu uns selbst, einen expost Standpunkt, eine Blaupause der Wirklichkeit. Vielleicht so, wie es im jüdischen Witz geschieht. Der verlacht nicht die Juden, sondern das Leben. Und wer kennt das besser als sie?

Während der Vorführung verschaffte sich ein Mann in der Reihe hinter dem Rezensenten seinem Unmut über das Lachen hörbar Luft. "Sehr witzig!", sagte er einmal scharf und in warnendem Unterton gegen seine sich erheiternde Umgebung. Vielleicht war aber gerade er einer der wenigen, die Koepp nicht verstanden haben. Er würde auch Kafka nicht verstehen; weil er für bare Münze nimmt, was in andere Währung zu wechseln ist. Weil er nicht spürt, wie dieser Film und Kunst schlechthin, das Leben auf ihre Weise chiffrieren, wie sie vor allem mit seinen, des Lebens Aporien, die wir immer wieder leiblich und, ach, wie schmerzlich erfahren, umgehen, sie gestalten und sie für uns ins Erträgliche, ins Allegorische, in eine Fiktion von ihm wandeln. Denn was gilt es anderes zu begreifen, als dass die Wahrnehmung des Lebens, so, wie dieses wirklich und reell gelebt wird, nicht gegen den gefilmten, schöpferischen Artefakt von ihm ein zu eins getauscht werden darf?

Eigentlich schade, in welche Nebenrolle dieses Filmereignis im Rahmen der Berlinale gedrängt wurde. Aber zu leicht wird vergessen, dass die Medienshow den Spielfilm auf ihren Schild gehoben hat und dem Dokumentarfilm nur einen Nebenschauplatz zuweisen kann.
Wer interessiert sich heute für Herrn Zwilling und Frau Zuckermann? Wen beschäftigen die Probleme einer versunkenen Stadt, von der kaum jemand weiß, wo er sie auf der Landkarte zu suchen hat? Und doch hat das Publikum den Film vorbehaltlos angenommen. Mitten im Berlin des Jahres 1999, in einem großen Kinosaal mit einigen hundert Menschen ist über zwei Stunden lang zur allgemeinen Faszination die Stadt Czernowitz, die Bukowina, oder, wenn man so will, die versunkene Monarchie und einige in ihrem geistigen Echoraum noch immer ausharrende Menschen zentrales Thema. Das kann schon überraschen!





Othmar Andrée

 


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