Czernowitz Bukowina - Wo Menschen und Bücher lebten

 

Inhalt

Buchvorstellung
Christel Wollmann-Fiedler und Verlagstexe

Selma Merbaum
Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben

 

Das Wohnhaus Selma Merbaums in der Bilaer Gasse 34 (heute 38)
Strada Bilei, вулиця Чернишевського, am Fuß der Habsburgshöhe,
wo sie in den Dreißigern zusammen mit ihrer Mutter lebte.
Das Haus, vor dem Ersten Weltkrieg errichtet, verfügte seinerzeit
weder über elektrisches Licht noch über fließendes Wasser.

 

 

Christel Wollmann-Fiedler

Marion Tauschwitz. Selma Merbaum – Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben“

Ein schönes und interessantes Buch, ein wichtiges Buch über Selma Merbaum und ihre siebenundfünfzig Gedichte. Vervollständigt und komplettiert hat die Autorin in dieser Biographie das kurze achtzehnjährige Leben der jungen Dichterin. Diese sehr prosaisch geschriebene Biographie passt zu den berührenden, ergreifenden Gedichten von Selma, dem Schulmädchen, in Czernowitz. Marion Tauschwitz’ Begegnung mit Selma Merbaum ist eine literarische. Selmas Gedichte interpretiert sie mit Begebenheiten und Begegnungen. Sehr spannend, teils vermutend mit fiktiven Gedanken erzählt die Autorin uns das bescheidene Leben der jungen Dichterin.

Wunderbare literarische Darstellungen der bukowiner Landschaft, die historischen Erklärungen dieses Landesteiles der einstigen Donaumonarchie am Rande der Ostkarpaten sind recherchiert an Ort und Stelle und geben keinen Zweifel. Marion Tauschwitz hat sich in die Landschaft begeben, die Stadt Czernowitz durchstreift, den Duft von damals aufgesogen, in unterschiedlichen Ländern und Archiven sorgfältig recherchiert, hat Zeitzeugen aufgespürt und erzählen lassen, die siebenundfünfzig Gedichte redigiert und Fehler korrigiert. Über das Leben von damals in der Vielvölkerstadt, der Stadt von Paul Celan, dem Cousin von Selma, der Stadt der deutschsprachigen jüdischen Lyriker und vom Leben der Selma Merbaum, hat sie erfahren, schreibt über die Ängste, die Todesängste des Mädchens.

Mit Selma und ihren Freunden aus der Zionistischen Jugendbewegung „trifft“ sich die Autorin im Cecinawald, begleitet sie ins Hofmann-Gymnasium und nach Hause in die Bilaer Gasse, später ins Todeslager nach Transnistrien. Sie, die Schülerin schreibt heimlich Gedichte unter der Schulbank, die später nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Tod von Selma, quer durch Europa nach Israel gelangen und inzwischen zur Weltliteratur gehören. Iris Berben die hochengagierte Schauspielerin und Künstlerin hat ein Vorwort geschrieben und bei der Vorstellung des Buches in Berlin im KulturKaufhaus Dussmann Gedichte von Selma Merbaum und Passagen aus dem neu erschienenen Buch einfühlsam gelesen. Ein Hochgenuss für den Zuhörer!

Selma Merbaum, die junge Protagonistin des vorliegenden Buches, wurde 1924 in Czernowitz geboren, der Vater Max starb, als sie einige Monate alt war. Die Mutter heiratete Leo Eisinger. Die deutsche Wehrmacht und die rumänischen Truppen besetzten 1941 Czernowitz, und Selma kam mit der Mutter und dem Stiefvater ins Czernowitzer Ghetto. Kurz darauf wurden sie nach Transnistrien in Arbeits- und Todeslager deportiert. Selma Merbaum starb im Dezember 1942 unter unmenschlichen Verhältnissen an Entkräftung und Typhus im Lager Michailowka. Die Eltern wurden in einem anderen Lager erschossen.

Mit viel Fantasie ist Marion Tauschwitz durch das kurze Leben von Selma Merbaum gegangen, hat den Kreis geschlossen. Lesen Sie das exzellent geschriebene Buch, lesen Sie die Liebesgedichte eines jungen Mädchens, lassen Sie sich von der Autorin in die Bukowina, ins alte Buchenland, verführen, durchstreifen Sie mit ihr das barocke Czernowitz. Lassen Sie sich von den kyrillischen Schriftzeichen nicht irritieren. 1944 wurde die deutsche Sprache zur Sprache des Feindes. Nichts ist übrig geblieben, von der einst jüdischen Kultur, der deutschen Sprache und dem habsburgisch geprägten Leben, doch sehenswert ist dieser vergessene Teil Osteuropas allemal.

 

 



Selma Merbaum starb 1942, achtzehn Jahre alt, als verfolgte Jüdin im deutschen Zwangsarbeitslager Michailowka in der Ukraine. Sie konnte nur 58 ihrer Gedichte handschriftlich hinterlassen, die sie zu ihrem einzigen erhaltenen Band »Blütenlese« zusammenstellte. Als letzten Satz fügte sie noch an: »Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben.« Diese Gedichte überstanden den Krieg auf abenteuerliche Weise.

 

Heute gehört Selma Merbaums schmales Werk zur Weltliteratur. Mit ihrem Cousin Paul Celan und Rose Ausländer zählt sie zum Dreigestirn der Bukowina. Selma Merbaums Texte wurden von namhaften Musikern vertont, ihre Gedichte von Künstlern auf CD gesprochen.

Zu Selma Merbaums Leben in Czernowitz und zu ihrer Familie war bisher so gut wie nichts bekannt. Das mörderische Zerstörungswerk der Nazis und die anschließenden Kriegs- und Nachkriegswirren schienen Informationen zu ihr und ihrem Leben restlos getilgt zu haben. Nicht einmal ihr Name war richtig überliefert worden.

In jahrelanger Forschung hat Marion Tauschwitz Daten, Ereignisse und Fakten zum Leben der jungen Künstlerin gesammelt, Archivmaterial aus der Ukraine, England, den USA und Deutschland gesichtet und ausgewertet, Dokumente geborgen, Zeitzeugen ausfindig gemacht und befragt.

In dieser spannenden, sprachlich einfühlsamen und wissenschaftlich fundierten Biografie hat Marion Tauschwitz das Leben der jungen Dichterin rekonstruiert und alle ihre Gedichte nach den Originalhandschriften neu übertragen.

 

Das großelterliche Haus unterhalb der Universität in der Rapfgasse,
Strada Dr. Gheorghe Popovici, heute вул. Радіщева

 

Gesehen 2013 in der Rapfgasse 10, Strada Dr. Gheorghe Popovici,
вул. Радіщева, unterhalb der Residenz der Metropoliten - Universität

 


 

Marion Tauschwitz. Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben
Biografie und Gedichte. Mit einem Vorwort von Iris Berben
Mit zahlreichen Abbildungen
Hardcover mit Schutzumschlag, 350 Seiten, ISBN 9783866744042

zu Klampen! Verlag, 28,00 €

 


 

Links:

zu Klampen! Verlag

Florian Hunger. Psychosemitischer Buchblog, 28. August 2014

Ramona Ambs. Poesie als inneres Exil. In: haGalil, 31. August 2014

Maria Ossowski, RBB, 31.08.2014

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